„Gute“ Leichte Sprache durch Regeln und Normen?

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Eine DIN-Norm für Leichte Sprache – eine gute Idee?

Bis Februar/März 2021 soll eine DIN SPEC für Leichte Sprache entstehen. Das ist eine kostenlose Vor-Version einer DIN-Norm. Ein Konsortium aus derzeit 35 Wissenschaftler*innen, Übersetzer*innen und anderen interessierten Parteien soll dafür die Inhalte erarbeiten. Ein erster „Geschäftsplan“ wurde bereits veröffentlicht und konnte bis zum 18. Februar 2020 kommentiert werden.

Auch Anne Berg und ich haben einen Kommentar eingesandt. Das sind unsere Gedanken:

Derzeit gibt es einige Texte in „Leichter Sprache“, die ihrem Namen kaum gerecht werden (zu lang, zu wenig erklärt, verwirrend aufgebaut, sprachlich defizitär…). Daher begrüßen wir die Bemühungen um Standardisierung und Qualitätssicherung. Die Standardisierung sollte jedoch nicht dazu führen, Textprodukte oder Arbeitsprozesse in ihrer Unterschiedlichkeit so zu beschränken, dass kein kreatives und individuelles Arbeiten mehr möglich ist. 

Pro und Contra sprachlicher Normierung

Bei der Übertragung in Leichte Sprache können Normen und Regeln besonders Neulingen eine Unterstützung sein. Allerdings ist bisweilen nötig, Regeln nach Augenmaß anzupassen und in Hinblick auf Angemessenheitsfaktoren abzuwägen (vgl. Bock 2019, Leichte Sprache – Kein Regelwerk). Besonders gilt zu reflektieren, was für die jeweilige Textsorte und Ansprache der Zielgruppe sinnvoll ist. Eine Norm für Leichte Sprache sollte deshalb eher Empfehlung und weniger Dogma sein, um ihrer heterogenen Leserschaft gerecht zu werden.

Korrekt angewendete Regeln allein sind nicht der Garant für verständliche Texte. Wichtig sind zudem ein ausgeprägtes Sprachgefühl, umfangreiche Zielgruppenkenntnisse, ein gutes Einfühlungsvermögen und vieles mehr. Texte in Leichter Sprache müssen, wie jedes andere Textprodukt auch, adäquat auf Leser*innen und deren Lesesituation zugeschnitten sein. Es scheint deshalb wenig zielführend, die Qualität von Texten in Leichter Sprache allein an der Einhaltung von „Regeln“ festzumachen (vgl. Bock 2019, Leichte Sprache – Kein Regelwerk).

Beispiele:

1. Zielgruppenorientierung

Eine Regel wie „Benutzen Sie einfache Wörter“ erfüllt sich nicht nur durch die Beachtung allgemeiner Häufigkeitslisten. Ein Beispiel: Eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung möchte einen Informationstext über das Angebot arbeitsbegleitender Maßnahmen. Dafür muss recherchiert werden, welche Begriffe in dieser konkreten Werkstatt geläufig sind. Dies zeigt auch: Leichte Sprache erfordert eine fundierte Zusammenarbeit und Kommunikation mit Auftraggeber*innen und Zielgruppenvertreter*innen – vor, während und auch nach der Texterstellung. Die DIN SPEC für Leichte Sprache sollte deshalb empfehlen, mit Vertreter*innen der jeweiligen Zielgruppe zusammenzuarbeiten.

2. Medienorientierung 

Bei einer Visitenkarte kann die Regel „Schreiben Sie in Schriftgröße 14“ kaum eingehalten werden. Auf der anderen Seite kann bei einem großen Panel für eine Ausstellung die Schriftgröße 14 viel zu klein sein. Die DIN SPEC sollte deshalb Handlungsspielräume einkalkulieren, um Texte den konkreten Umständen entsprechend anzupassen.

3. Auftraggeber*innen-Orientierung

Eine vollständige Übertragung in Leichte Sprache wird oft länger als ihr Ausgangstext. Um trotzdem Texte zu erschaffen, die vom Umfang her von der Zielgruppe verarbeitet werden können, findet oft im Vorfeld eine Selektion statt. Die DIN SPEC sollte empfehlen, diese Auswahl gemeinsam mit dem*der Auftraggeber*in zu treffen. 

4. Kreativitätsorientierung 

Zu starre Regelfixierung führt leicht zu langweiligen oder sogar unangemessenen Texten. Daher muss einerseits Raum für Kreativität bleiben und andererseits ein zielgruppenorientiertes und angemessenes Layout möglich sein. Die DIN SPEC sollte deshalb unterstreichen, dass Anregungen im Text – ob visueller oder sprachlicher Natur – die Aufmerksamkeitsspanne der Lesenden erhöhen und daher nicht vergessen werden sollten.

DIN und Prozessbeschreibung

Die DIN SPEC 33429 sollte nicht nur Empfehlungen zu Regeln, sondern auch zum Übersetzungsprozess selbst machen. Aufgeführt werden sollte zum Beispiel, wie Auftraggeber*innen in den Prozess integriert werden, wer den Text wann und wie prüft (Prüfgruppe und 4-Augen-Lektorat) oder welche Kompetenzen und Qualifikationen Übersetzende mitbringen sollten. 

Eine Möglichkeit, das 4-Augen-Prinzip UND die Zielgruppenprüfung umzusetzen, ist, die Prüfmoderation/-assistenz durch eine weitere in Leichter Sprache geschulte Person vornehmen zu lassen. Um freiberufliche Übersetzer*innen nicht zu benachteiligen, sollte diese Forderung allerdings nicht verpflichtend sein. 

Bei einer Prüfung durch eine zweite Person sollte diese nicht nur die sprachliche Ebene beurteilen können, sondern auch, ob der Text sachlich korrekt übertragen ist. Dafür sollte die DIN SPEC empfehlen, dass die Moderation/Assistenz bereits vor der Prüfsitzung Zugang zu Ausgangstext und Übersetzung hat.

DIN und Zielgruppenprüfung

Es ist zu erwarten, dass eine DIN SPEC den derzeitigen Markt der Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Leichten Sprache deutlich beeinflussen wird. Die textbereichernde Co-Redaktion durch Zielgruppenvertreter*innen sollte deshalb in der DIN SPEC berücksichtigt werden. Das Wissen um Leichte Sprache befindet sich in einem „iterativen Prozess“, der nur mit Vertreter*innen der Zielgruppe weiterentwickelt werden kann – am besten begleitet durch wissenschaftliche Forschung.