Eine Ballade in 3 Schwierigkeitsstufen

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Will ich Literatur vereinfachen, muss ich abwägen zwischen Stil und Einfachheit. Ein Beispiel dafür sind die Versionen der Ballade Nis Randers von Otto Ernst in diesem Text.

Wie vereinfache ich ein literarisches Werk? Bemühe ich mich, den Stil zumindest im Ansatz zu erhalten? Oder geht es einzig und allein um die Verständlichkeit? Diesen spannenden Fragen haben sich Teilnehmer*innen einer praktischen Übersetzungsreihe gestellt, die ich seit 2019 einmal im Jahr über den BDÜ anbiete. Anlass war die Übertragung der Ballade Nis Randers von Otto Ernst. Es sei gesagt: Jede*r hat die Aufgabe auf eine eigene Art gelöst – denn wie so oft bei Übersetzungen gilt auch hier: Es gibt kein richtig oder falsch. Es sind tolle Ergebnisse herausgekommen.

Ich habe als Beispiel eine sehr freie Auslegung gewählt und sie in Kontrast gesetzt mit meiner eigenen – leichteren – Version. Beate Huth ist es in ihrem Nis Randers gelungen, eine gereimte Form zu bewahren. Chapeau!

Nis Randers

Original von Otto Ernst

Krachen und Heulen und berstende Nacht,
Dunkel und Flammen in rasender Jagd –
Ein Schrei durch die Brandung!

Und brennt der Himmel, so sieht mans gut.
Ein Wrack auf der Sandbank! Noch wiegt es die Flut;
Gleich holt sichs der Abgrund.

Nis Randers lugt – und ohne Hast
Spricht er: „Da hängt noch ein Mann im Mast;
Wir müssen ihn holen.“

Da fasst ihn die Mutter: „Du steigst mir nicht ein:
Dich will ich behalten, du bliebst mir allein,
Ich wills, deine Mutter!

Dein Vater ging unter und Momme, mein Sohn;
Drei Jahre verschollen ist Uwe schon,
Mein Uwe, mein Uwe!“

Nis tritt auf die Brücke. Die Mutter ihm nach!
Er weist nach dem Wrack und spricht gemach:
„Und seine Mutter?“

Nun springt er ins Boot und mit ihm noch sechs:
Hohes, hartes Friesengewächs;
Schon sausen die Ruder.

Boot oben, Boot unten, ein Höllentanz!
Nun muss es zerschmettern …! Nein, es blieb ganz …!
Wie lange? Wie lange?

Mit feurigen Geißeln peitscht das Meer
Die menschenfressenden Rosse daher;
Sie schnauben und schäumen.

Wie hechelnde Hast sie zusammenzwingt!
Eins auf den Nacken des andern springt
Mit stampfenden Hufen!

Drei Wetter zusammen! Nun brennt die Welt!
Was da? – Ein Boot, das landwärts hält –
Sie sind es! Sie kommen!

Und Auge und Ohr ins Dunkel gespannt …
Still – ruft da nicht einer? – Er schreits durch die Hand:
„Sagt Mutter, ’s ist Uwe!“

Version von Beate Huth

Donner und Blitz,
Gewitter und Sturm.
Menschen stehen am Meer.
Sie schauen hinaus.
Es ist dunkle Nacht.
Die Menschen fürchten sich sehr.

Der Sturm tobt laut.
Ein Blitz leuchtet hell:
Ein Schiff ist draußen zu sehen.
Es liegt nicht weit weg,
jedoch schon ganz schräg.
Das Schiff wird bald untergehen.

Und mitten im Sturm
hört man den Schrei –
ein Seemann hängt noch im Mast!
Nis Randers beschließt:
„Wir retten den Mann!“
Und alles ganz ohne Hast.

Nis‘ Mutter hat Angst.
Nis soll nicht fort.
Sie will ihren Sohn behalten.
Nis ist der einzige,
der ihr noch blieb,
nicht starb in den Meeres-Gewalten.

Ihr Mann ist ertrunken.
Ein anderer Sohn auch.
Und ein dritter Sohn wird lang schon vermisst.
Uwe – so heißt er.
Ihr Uwe! Nis weiß,
wie schlimm das für Mutter ist.

Die Mutter ist traurig,
will nicht, dass nun Nis
im Wasser verliert sein Leben.
Doch Nis zeigt zum Schiff.
Er sagt: „Mutter, ich geh!
Muss den Mann seiner Mutter doch geben.“

Nis springt ins Boot.
6 Freunde mit ihm.
Sie rudern hinaus in die Wellen.
Die Menschen am Ufer
fragen sich schon:
„Wird das Boot wohl im Meer zerschellen?“

Die Wellen sind hoch.
Die Wellen sind stark.
Sie werfen das Boot hin und her.
Boot oben, Boot unten.
Lang dauert die Fahrt.
Das Boot? Man sieht es nicht mehr.

Die Blitze zucken.
Der Donner grollt.
Doch da! Das Boot! So ein Glück!
Und Nis Randers ruft laut
-die Mutter soll es hören –
„Wir bringen dir Uwe zurück!“

meine Version

Es ist Nacht.
Es stürmt.
Es blitzt und donnert.
Der Wind ist stark.
Das Meer ist wild.

Am Strand stehen Menschen.
Plötzlich hören sie einen Schrei.
Jemand schreit auf dem Meer.

Ein Blitz macht den Himmel hell.
Die Menschen erkennen:
Auf dem Meer ist ein Boot.
Das Boot ist in Gefahr:
Bald geht es unter.

Auch Nis Randers steht am Strand.
Nis sagt:
„Ich sehe einen Mann auf dem Boot.
Wir müssen den Mann retten.“

Die Mutter von Nis hält ihren Sohn fest.
Sie sagt:
„Bitte fahr nicht auf das Meer!
Das ist zu gefährlich.
Ich habe nur noch dich.
Du sollst nicht auch noch sterben!“

Die Mutter sagt auch:
„Dein Vater ist auf dem Meer gestorben.
Und dein Bruder Momme auch.
Ihr Boot ist untergegangen.

Auch dein Bruder Uwe ist weg.
Er ist vor 3 Jahren auf das Meer gefahren.
Und er ist nicht wiedergekommen.
Mein Uwe! Mein Uwe!“

Nis sagt:
„Der Mann auf dem Meer hat doch auch eine Mutter!
Und wenn der Mann stirbt?
Dann ist die Mutter von dem Mann auch traurig.
Wir müssen den Mann retten!“

Nis und 6 Männer springen in ein Boot.
Die Männer sind mutig.
Die Männer sind groß und stark.

Die Männer rudern schnell.
Die Wellen sind hoch.
Das Boot schaukelt sehr.
Das Boot geht fast kaputt.
Es ist sehr gefährlich.

Das Boot fährt immer weiter raus.
Jetzt können die Leute am Strand
das Boot nicht mehr sehen.

Es blitzt wieder.
Der Blitz macht den Himmel hell.
Da sehen die Menschen am Strand ein Boot.
Das Boot kommt näher.

Die Menschen am Strand sehen:
Auf dem Boot sind die Männer und Nis!
Die Menschen sind sehr froh.

Plötzlich ist es wieder dunkel.
Die Leute am Strand sehen nichts mehr.
Der Sturm ist laut.
Die Leute schauen auf das Meer.
Ein Mann sagt:
„Seid still!
Ich höre einen Mann rufen.“

Der Mann ist Nis.
Nis ruft:
„Sagt meiner Mutter Bescheid:
Wir haben Uwe gefunden!“

Das Beispiel veranschaulicht, dass eine vollständige Übertragung in Leichte Sprache deutlich länger wird als das Original. Deshalb muss hier oft inhaltlich gekürzt werden.

Übrigens: Ich habe Beates Version mit in die Prüfgruppe genommen. Erwartungsgemäß wurden viele Dinge nicht verstanden – von Meeresgewalten über zerschellen bis ohne Hast. Es wundert auch nicht, dass die Satzstellung Probleme bereitete (O-Ton: „Das ist aber komisch geschrieben!“). Ich denke aber auch, dass die Prüfsituation dazu beiträgt, den Text besonders kritisch zu hinterfragen. Schließlich geht es beim Prüfen ja gerade darum, den Text kritisch unter die Lupe zu nehmen.

Zudem haben die Prüfer*innen selbst gelesen. Bei einer Lesung, vielleicht sogar mit visualisierenden Folien oder passenden Hintergrundgeräuschen, wäre das Feedback ein anderes. Seit dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020 treffen wir uns einmal die Woche zu einer inklusiven Lesestunde. Auch dort lesen wir Geschichten, bei denen ganz sicher nicht immer alle alles verstehen. Die Verständnislücken sollten hier zwar nicht zu groß sein. Wenn aber die Stimmung, die Intention ankommt, gleicht das viel aus.

Gleichzeitig sind Geschichten wichtig, die auch für Leser:innen mit sehr geringem Wortschatz und großem Bedarf nach zusätzlichen Erklärungen transparent sind. Auch bei literarischen Texten gilt abzuwägen. Und sich vorher gut zu überlegen: Was ist meine Intention? Und: Wen möchte ich erreichen?

Der Vater meiner Töchter stammt aus Galicien; ein Teil Spaniens, der gesprägt ist von der rauen Atlantikküste (ich sag nur Costa da Morte – Todesküste). Er war berührt vom Schicksal der Mutter und vom Mut Nis Randers´. Das Original war für ihn völlig unverständlich. Beates Version gefiel ihm zunächst stilistisch besser, insgesamt war es dann aber doch zu viel, was ihm verschlossen blieb. Deshalb blieb er bei meiner leicht-leichten Übertragung hängen.

Die Gegenüberstellung der drei Versionen zeigt also noch etwas anderes: Einer guten Geschichte kann ein sprachliches Korsett nichts anhaben. Es bleibt eine gute Geschichte. Alexandra Lüthen drückt dies wunderbar in dem Buch Allen eine Chance – Warum wir Leichte Sprache brauchen aus:

Das ist dann eine Freude, wenn man merkt: Die Güte des Textes hat rein gar nichts mehr mit seiner Regeltreue zu tun. Das ist nur ein Anlass, ein definiertes Feld und dort findet jetzt etwas statt. Eine Geschichte, ein Roman, ein Lied, Lyrik. Und alles geht. Weil die Geschichte Kraft hat und der Roman Zug und das Lied Ton und die Lyrik Leichtigkeit und Schwere zugleich.

Wie siehst du das? Ich bin neugierig!