Dolmetschen in Leichte Sprache – Was, wie und woher?

Foto: Dolmetscher

Das Dolmetschen in Leichte Sprache ist eine sehr junge Disziplin. Bislang findet die Leichte Sprache überwiegend in schriftlicher Form Anwendung. Dabei bestimmt doch gerade die mündliche Kommunikation unser gesellschaftliches Leben. Sei es auf dem Amt, im Museum oder bei Konferenzen: Überall muss ich verstehen, was gesagt wird, um teilhaben zu können. Nur folgerichtig also, dass nun das Feld des Dolmetschen in Leichte Sprache hinzugekommen ist.

Dolmetschen in Leichte Sprache: Wieso erst jetzt?

Aber warum erst jetzt? Der Hauptgrund ist wohl, dass viele annahmen: Das geht gar nicht. Komplexe Sachverhalte können unmöglich simultan zu Leichter Sprache vereinfacht werden.

Schließlich erfordert die Übertragung in Leichte Sprache, den Ausgangstext von Grund auf zu verändern:

  • Sätze müssen aufgebrochen und in kleine, überschaubare Einheiten unterteilt werden
  • schwierige Begriffe müssen ersetzt oder erklärt werden
  • Implizites muss ausgesprochen
  • durch Passivformulierungen verschleierte Handlungsträger müssen benannt werden

Oft muss ich dafür den Textinhalt vollständig auf den Kopf stellen. Zum Beispiel, um eine chronologische und damit leicht nachvollziehbare Reihenfolge der Ereignisse einzuhalten. Oder, um besonders wichtige Aspekte an den Anfang zu setzen.

Alles begann mit Anne Leichtfuß …

Es brauchte Anne Leichtfuß, die 2013 auf Anfrage des Theaterfestivals NO LIMITS es wagte. Neben der Verdolmetschung ins Englische und Französische dolmetschte sie eben auch simultan in Leichte Sprache – eine Premiere. Seitdem gibt es immer mehr Menschen, die sich an das Dolmetschen in Leichte Sprache herantrauen. Und mit ihnen werden es auch mehr Veranstaltende, die sich um eine möglichst barrierearme Kommunikation bemühen und dafür auch eine Verdolmetschung in Leichte Sprache einplanen. Ziel ist es, dass auch Menschen mit Lernschwierigkeiten den Diskursen folgen und sich aktiv einbringen können.

Wo wird in Leichte Sprache gedolmetscht?

Noch sind es oft Veranstaltungen zu Themen, die Menschen mit Behinderung direkt betreffen wie Fachtage zu Inklusion, Teilhabe oder Rechte von Menschen mit Behinderung. Dort wird dann überwiegend simultan in der Kabine oder, bei geringerem Budget, mit einer Personenführungsanlage gedolmetscht. Zunehmend sind es aber auch bilaterale Settings, bei denen für ein bis zwei Personen in Leichte Sprache gedolmetscht wird. Bei vielen Konferenzen wechseln sich auch beide Modalitäten ab. Hier folgt beispielsweise auf einen Vortrag „im großen Saal“ kleinere Workshops.

Meist wird für Menschen mit Lernschwierigkeiten gedolmetscht. Manchmal sind die Zuhörenden aber auch Menschen mit Migrationsgeschichte (so durfte ich zum Beispiel einmal beim Amtsgericht Stuttgart dolmetschen ­– ein Präzedenzfall, der hoffentlich Schule macht).

Bislang konzentrieren sich zwar die meisten Dolmetschungen auf Bereiche von öffentlichem Interesse wie politische Veranstaltungen oder Fachtage. Vor dem Hintergrund des Bundesteilhabegesetzes und den Bestrebungen nach Empowerment und Teilhabe verändern sich aber die Strukturen, in denen Menschen mit Lernschwierigkeiten leben. Das lässt hoffen, dass damit auch das Bewusstsein wächst, wie wichtig Dolmetschungen auch gerade im Community-Bereich sind – also zum Beispiel in der Arztpraxis, auf dem Amt oder beim Elterngespräch in der Schule.

Die Regeln der Leichten Sprache

Wie genau Sprache zu „Leichter Sprache“ wird, dafür gibt es Regeln, die mittlerweile mehrmals aufgeschrieben und weiterentwickelt wurden. Diese wurden allerdings für Texte und nicht für gesprochene Sprache konzipiert. Die bekanntesten Regelwerke sind Leichte Sprache. Ein Ratgeber (2013) vom Netzwerk Leichte Sprache und Leichte Sprache. Das Regelbuch (2015) von Christiane Maaß (Forschungsstelle Leichte Sprache, Universität Hildesheim). Das zweite basiert auf einer sprachwissenschaftlichen Analyse des ersten und ist damit in vielen Punkten strikter und konkreter im Hinblick darauf, wie grammatische Strukturen umgewandelt werden sollten. Aktueller und umfangreicher ist die im Duden Verlag erschienene Reihe zur Leichten Sprache, ebenfalls von Christiane Maaß zusammen mit Ursula Bredel verfasst.

Der Grundgedanke der Regeln ist, dass ein Text durch die maximale Vereinfachung aller sprachlichen Strukturen zu Leichter Sprache wird. Bettina Bock vertritt in der LeiSa-Studie (Universität Leipzig) aber die Ansicht, die textinhärente Vereinfachung durch Regeln sei zwar sinnvoll, aber nicht ausreichend, zumal die Regeln eher als Faustregeln denn als starre Normen zu verstehen seien. Stattdessen gebe es fünf Faktoren, die bei einem guten Text oder Sprechakt angemessen sein sollten:

  1.  adressatenbezogen
  2. funktional/kommunikationsbereichsbezogen
  3. sachlich-inhaltlich
  4. bezogen auf weitere situative Merkmale (u. a.: mündliche/schriftliche Realisierung, Zeit/Ort, voraussichtliche Lesesituation)
  5. senderbezogen (Bock 2018: 15)

Diesem Ansatz nach gibt es also nicht die Leichte Sprache, sondern nur einen Text oder Sprechakt, der sich an die Anforderungen und Bedürfnisse der jeweiligen Situation anpasst. Bezogen auf das Dolmetschen heißt das, dass genau analysiert werden muss, wann, wie, wo und für wen gedolmetscht und die Verdolmetschung entsprechend anzupassen ist.

Gleichzeitig bleiben die Regeln wichtig. Denn anders als der Name suggeriert ist Leichte Sprache keine Sprache, sondern eine Sammlung von Vorgaben, wie Informationen verständlicher werden – das Sprechen ist damit im großen Maße geplant und künstlich. Denn Niemand spricht von Natur aus Leichte Sprache.

Und wie erlerne ich das nun?

Für das Dolmetschen bedeutet dies, dass zunächst die „Regeln“ verinnerlicht, sprachliche Automatismen unterdrückt und Ungewohntes eingeführt werden müssen. Dafür ist das Regelwerk der Forschungsstelle Leichte Sprache sehr hilfreich. Es ist ein wenig wie beim Schreibenlernen: So wie Kinder einen Buchstaben zunächst genau „abmalen“, werden Satzstrukturen nach klaren Vorgaben aufgebrochen. So wie das Kind mit der Zeit dann seine eigene, ganz individuelle Schrift entwickelt, entsteht­ bei den Dolmetschenden ein Gefühl dafür, wo ein Abweichen vertretbar ist – und ein eigener Stil formt sich aus. Dies erfolgt vergleichbar auch beim Schreiben.

Sinnvoll ist es, sich mit Leichter Sprache zunächst in schriftlicher Form vertraut zu machen, weil dies schlicht mehr Zeit lässt. Denn beim Dolmetschen (insbesondere simultan) kommt es unausweichlich aufgrund der Zeit zu Abstrichen in puncto Regelkonformität. Dafür werden mündlich viele zusätzliche Informationen vermittelt – beispielsweise über Betonung, Mimik, Gestik oder auch Kontext – und zudem fällt die Schwierigkeit des Lesens weg.

Konsekutiv vs. simultan

Heute wird bei Konferenzen kaum noch konsekutiv gedolmetscht – der Zeitaufwand ist groß und der Gesprächsfluss wird ständig unterbrochen, was störend sein kann. Beim Dolmetschen in Leichte Sprache hat diese Form aber auch Vorteile: Denn im Gegensatz zum interlingualen Dolmetschen verstehen auch jene, die nicht auf Leichte Sprache angewiesen sind, sowohl das Original als auch die Verdolmetschung. Sie werden so sensibilisiert und bemerken – oft zum ersten Mal –, an wie vielen Stellen Wissen vorweggenommen wird und wie Dinge auch einfacher ausgedrückt werden können.

Darüber hinaus kann es bei komplexen Themen angenehm sein, das Ganze noch einmal einfacher wiederholt zu bekommen und dadurch mehr Zeit für die eigene Verarbeitung zu haben. Für die Zielgruppe hat eine konsekutive Verdolmetschung den Vorteil, dass niemand sich „die Blöße geben“ muss, sich einen Kopfhörer aufzusetzen.

Dabei gibt es zwei Möglichkeiten: Zum einen kann eine abgezählte Anzahl an Kopfhörern für diejenigen bereitgehalten werden, die im Vorfeld einen Leichte Sprache-Bedarf angemeldet haben. Zum anderen kann aber auch ein ganzer Koffer mit Kopfhörern bereitgestellt werden. Die Erfahrung zeigt: Je mehr Kopfhörer vorhanden sind, umso mehr Personen nutzen diese auch – sei es aus Neugierde, sei es aus dem Bedürfnis heraus, fachlich anspruchsvolle Diskurse leichter verdaulich angeboten zu bekommen. Auch so können also breite Teile des Publikums für die Bedürfnisse der Zielgruppe sensibilisiert werden.

Bei einer Konsekutiv-Verdolmetschung ist die Brückenfunktion eher gegeben, da komplexe Formulierungen nicht von vorneherein vorenthalten werden. Gleichwohl sind der Zeitaufwand und die stärkere Belastung der Konzentration natürlich nicht von der Hand zu weisen – ob konsekutiv oder simultan ist also auch hier eine Frage der Abwägung.

Weitere Besonderheiten

Eine gute Analyse des Ausgangsdiskurses ist beim Dolmetschen generell sehr wichtig; beim Dolmetschen in Leichte Sprache ist sie jedoch Voraussetzung. Denn es ist unabdingbar, die Intention der Redenden zu erspüren und die Logik der Argumentation genau nachvollziehen zu können. Darüber hinaus muss das Wissen so tiefgreifend sein, dass jeder Fachbegriff erläutert, vorausgesetzte Informationen hinzugefügt und Nebensächliches weggelassen werden kann. Dies setzt eine umfassende Vorbereitung in Form von inhaltlicher Recherche und dem Erstellen von Glossaren voraus. Somit gleicht das Dolmetschen in Leichte Sprache in diesem Punkt dem interlingualen Konferenzdolmetschen. Ein auffälliger Unterschied ist aber, dass in Glossaren die Spalte für die Leichte Sprache bei den meisten Begriffen sehr viel ausführlicher ausfällt, weil ein einfacheres Synonym meist nicht genügt, sondern zusätzliche Erklärungen gegeben werden müssen. Diese Erklärungen sollten vorher ausformuliert werden, um möglichst kurz und klar zu bleiben und in der Kabine Kapazitäten sparen.

Die entscheidende Besonderheit beim Dolmetschen in Leichte Sprache ergibt sich aus der Arbeit innerhalb derselben Sprache: Beim Simultandolmetschen auf einer Konferenz verändern die Dolmetschenden gemeinhin nicht das Register des Ausgangsdiskurses. Bei der Leichten Sprache ergibt sich aber ja gerade die Notwendigkeit der Verdolmetschung aus dem Fakt, dass die Zielgruppe dem Diskurs in der Ausgangssprache inhaltlich und sprachlich nicht (bzw. nicht durchgehend) folgen kann, wobei es allein bei Menschen mit Lernschwierigkeiten sehr unterschiedlich sein kann, wo genau Verständnisschwierigkeiten auftreten. Folgende Formulierungen aus einem Entwurf für die Berufs- und Ehrenordnung für Gebärdensprachdolmetscher trifft auch hier zu: „Ziel ist es, die Botschaften und den Inhalt im Hinblick auf die Intention des Sprechers zu übertragen und sich dabei sprachlich an die Bedürfnisse des Empfängers der Botschaften anzupassen“ (Hummert/Knipping 2018: 302). „Dies erfordert innere Flexibilität, Empathie und die Fähigkeit, eigene Belange zurückzustellen“ (ebd.).

Feedback

Um sich adäquat an die Zuhörenden anpassen zu können, ist Feedback wichtig. Hat man beim Dolmetschen Sichtkontakt mit dem Publikum, kann man sich dazu beispielsweise eine eine ausdrucksstarke Person unter den Zuhörenden suchen. Alternativ gibt es vielleicht eine Vertrauensperson ohne Lernschwierigkeit, die sich zwischen den Zuschauenden platziert. Diese kann dann durch Blickkontakt einschätzen (oder es zumindest versuchen), ob alle Inhalte verstanden werden. Sollte nachgebessert werden, kann sie dies per Handzeichen an die oder den Dolmetschenden weitergeben. Eine Form des direkten Feedbacks bei mündlichen Diskursen, die im Leichte-Sprache-Kontext bereits recht bekannt ist, sind rote Karten, die Zuhörende bei Bedarf heben. Damit signalisieren sie, dass etwas erklärt werden muss. Viele Menschen mit Lernschwierigkeiten haben zudem mittlerweile ein Bewusstsein für ihr Recht auf Verstehen entwickelt und kommunizieren ihre Bedürfnisse daher sehr deutlich. Eine weitere Form sind Feedback-Bögen, die nach Abschluss einer Rede von den Zuhörenden ausgefüllt werden. Darüber hinaus ist sinnvoll, dass die Dolmetschenden über persönliche Gespräche in Pausen Rückmeldung zur eigenen Leistung einholen.

Rolle beim Gesprächsdolmetschen

Das Dolmetschen für Einzelpersonen vereinfacht zwar einiges, erfordert aber auch viel Empathie und Fingerspitzengefühl, denn viele sind es nicht gewohnt, zuzugeben, wenn sie etwas nicht verstehen. Das Nicht-Verstehen als besonderes Bedürfnis zu akzeptieren, zu verinnerlichen, dass man ein Recht darauf hat, verstehen zu können, das erfordert einen Entwicklungsprozess. Oft sind sich zudem viele Zielpersonen der Leichten Sprache gar nicht bewusst, dass sie gerade etwas nur teilweise, gar nicht oder sogar falsch verstehen. Dies alles zeigt: Je besser sich Dolmetschende  und Zielpersonen kennen und je mehr sie sich vertrauen, umso besser die Dolmetschleistung. Denn auf der einen Seite wird so wahrscheinlicher, dass Zuhörende sprachliche Bedürfnisse artikulieren. Auf der anderen Seite kann man als Dolmetscherin bzw. Dolmetscher zunehmend besser einschätzen, wie die adressierte Person denkt – und damit auch, wie etwas erklärt werden muss, damit es verstanden wird, und welche Inhalte vorausgesetzt werden können.

Manchmal kann man sich beim Dolmetschen auch nicht auf das reine Übertragen von Informationen beschränken. So kann es Situationen geben, in denen man feststellt, dass eine Adressatin oder ein Adressat ein kommunikatives Bedürfnis hat, das nicht befriedigt wird. Dann kann es notwendig sein, einzugreifen und beispielsweise das Gespräch zu unterbrechen, damit die Adressatin oder der Adressat eine Frage stellen oder eine Meinung einbringen kann. Dies veranschaulicht: Wie im Bereich des Community-Dolmetschens sind die Dolmetschenden hier nicht nur „wertneutrale Sprachinstrumente“ (Bahadır 2015: 49), sondern erfüllen darüber hinaus oft die Funktion einer Assistenz.

Fazit

Bezogen auf das Tätigkeitsfeld ist Dolmetschen in Leichte Sprache (noch) in erster Linie nahe beim Konferenzdolmetschen angesiedelt. Beachten wir die Art zu dolmetschen, verschwimmen aber die Grenzen zum Community-Bereich mehr, als es in interlingualen Kontexten der Fall ist. Anders als beim Dolmetschen im interlingualen Community-Bereich, wo oft ad hoc gedolmetscht wird, ist eine gründliche Vorbereitung aber für die Übertragung in Leichte Sprache unabdingbar.

Dieser Artikel ist in abgewandelter Form in der Fachzeitschrift MDÜ – Ausgabe 2020-3 „Barrierefreie Kommunikation“ erschienen.

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