Jahresrückblick 2020: was für ein Jahr!

Foto: Glen Carrie, Unsplash

2020 klingt aus mit Dinner for One in Leichter Sprache – einfühlsam aufbereitet von Kirsten Czerner-Nicolas (alias James) und Anne Leichtfuß (alias Miss Sofie). Irgendwie ist der alte Sketch in diesem Jahr besonders passend: Reale Treffen sind nicht möglich? Dann feiern wir halt mit eingebildeten Freunden! Machen wir das Beste draus. Nützt ja nichts. Das könnte mein Motto für 2020 sein. So viele krasse Einschnitte, so viele Begegnungen, so viele grundlegende Veränderungen. Im Rückblick kann ich kaum glauben, dass all das in nur einem Jahr passiert sein soll.

Aber der Reihe nach.

Und dann kam Corona

Das Jahr begann vielversprechend: Der Kalender war bereits gut gefüllt mit Dolmetschaufträgen und Schulungen; interessante Übersetzungsprojekte kamen im stetigen Fluss. Mit ZDF Digital tüftelte ich gerade an einem wöchentlichen Videobeitrag mit Audiospur in Leichter Sprache – eine Mammutaufgabe, die allein mich schon recht gut hätte ernähren können. Doch dann kam Corona und mit dem Virus eine Absage nach der anderen. Auch das ZDF schob die Idee erstmal auf die Wartebank.

Nun könnte man denken: Das Übersetzen ist krisenresistent, das lässt sich doch bequem im Homeoffice erledigen. Man muss aber sagen: Es rechnet sich weitaus weniger als das Schulen oder Dolmetschen. Texte erstellen ist deshalb ein wichtiger Baustein, um in der Praxis und in Übung zu bleiben. Nur mit Texten allein zu überleben, ist aber schwer.

Prüfen goes digital

Dazu kommt: Vor Corona gehörte es zu meinem Übersetzungsalltag, mich einmal die Woche mit Menschen mit Lernschwierigkeiten in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung zu treffen. Die sogenannte Prüfgruppe testete hierbei die Verständlichkeit meiner Texte. Dies war von einem Tag auf den anderen nicht mehr möglich, da die Werkstatt vorsorglich und auf unbestimmte Zeit „externen Dienstleistenden“ den Zugang verwehrte.

Zum Glück konnte ich einige Prüfer:innen ausfindig machen, mit denen ich per Videokonferenz zu prüfen begann. Leider schloss dieser digitale Weg den Großteil der Prüfgruppe aus: Einige wohnen im Wohnheim – dort gibt es kein WLAN. Andere haben zwar ein Handy, aber nur ein sehr begrenztes Datenvolumen. Andere haben nicht mal das. Fazit: In puncto Digitalisierung liegen Menschen mit Lernschwierigkeiten weit hinter dem deutschen Durchschnitt zurück.

Kleiner Exkurs:
Digitale Barrieren für Menschen mit Lernschwierigkeiten

Zudem ist es mit WLAN allein nicht getan. Das Internet birgt 1000 Fallstricke. Die Schwierigkeiten beginnen bei Passwörtern und Registrierungen (viele der Prüfer:Innen haben beispielsweise drei oder vier Facebook-Accounts, weil sie die alten Passwörter nicht wiederfinden) und geht weiter mit verwirrenden Pop-ups. Zum Beispiel sorgt bei vielen der obligatorische Cookies-Hinweis für Verunsicherung, weil zum Schließen ein Textfeld gewählt werden muss – dessen Formulierung je nach Website variiert. Deutlich barriereärmer ist ein Kreuz oben rechts als Möglichkeit, ein Fenster zu schließen. Bei dieser Option fehlt aber natürlich die Wahlmöglichkeit, hilft für das Cookie-Problem also auch nicht weiter.

Dazu kommt ein Umfeld, dass selbst oft alles andere als digital native ist. Oft haben beispielsweise Betreuer:Innen profane Ängste wie „Die bestellen dann teure Dinge im Internet“ oder „Die fallen dann noch auf Betrüger herein“. Gerade in Einrichtungen sind es häufig auch strenge Datenschutzregeln, die Entwicklungen erschweren. So haben mir verschiedene Menschen mit Lernschwierigkeiten die Rückmeldung gegeben, mit Zoom relativ schnell gut zurechtgekommen zu sein. Andere Anbieter wie Webex oder Teams werden als deutlich komplexer eingestuft. Leider darf aber Zoom in vielen Einrichtungen nicht verwendet werden.

Ein anderes Beispiel ist WhatsApp: Auch Schlechtleser:Innen können per Sprachnachricht schnell und unkompliziert kommunizieren. Das hat dazu geführt, dass es beispielsweise im ambulanten Wohnbereich mittlerweile Usus ist, dass sich Betreuer:Innen und Klient:Innen über diesen Nachrichtendienst austauschen – inoffiziell versteht sich. Corona hat hier einiges in Bewegung gebracht. Die genannten Beispiele zeigen aber: Das war dringend nötig und ist längst nicht ausreichend.

Aber zurück zum Prüfen: Zunächst per WhatsApp-Konferenz, dank organisiertem Laptop dann über Zoom tasteten wir uns an die neuen Prüfgegebenheiten heran. Mittlerweile muss ich zugeben: Ich möchte es nicht mehr missen. Die wichtigsten Vorteile: Ich spare mir die Fahrt und ich habe einen Computer mit Internet. Letzterer erlaubt mir, meinen Bildschirm zu teilen und so die gleiche Textversion zu lesen. So kann ich Problemstellen vor den Augen der Prüfer:innen bearbeiten und erneut überprüfen. Zudem können die Prüfer:Innen selbst testen, wie sie beispielsweise mit der Navigation einer Website zurechtkommen. Dank geteiltem Bildschirm nehme ich daran teil. Ein weiterer Pluspunkt: Die Prüfer:Innen können so viel schmöken wie sie lustig sind – es stört mich nicht im geringsten ;).

Lockdown im Elsass

Wie so viele, fand ich also Lösungen für die neuen Gegebenheiten. Auch das Übersetzen wurde nach anfänglicher Schockstarre schrittweise mehr. Gleichzeitig begann im Privaten der Lockdown – wir wohnten (ja, wohnten, in der Vergangenheit, aber dazu komme ich später) in einem Grenzdörfchen im Elsass. Die Schließung der Grenze riss das Dorf in zwei Teile. Der nächste Supermarkt lag auf deutscher Seite, der Kiosk mit dem günstigeren Tabak auch. Überall flammten alte Ressentiments wieder auf. Mich selbst störte es ehrlich gesagt nur peripher. Dann ging es zum Einkaufen eben zu Carrefour statt zu Penny und Netto, und das Gemüse kam ohnehin mit der Biokiste.

Dann kam die Schulschließung und damit die für mich härteste Belastungsprobe der Coronazeit. Eins kann ich versichern: Ohne Fernsehen hätte ich diese Monate nicht durchgestanden. Mein Kontakt in der echten Welt beschränkte sich von da an auf meinen Mann, meine Kinder, die portugiesischen Nachbarn von unten und Familie Hepp von schräg gegenüber. Jede Stunde, die meine Tochter Olaya bei den Hepps unterkam, nutzte ich zum Arbeiten. Das war ein Wahnsinnsglück, wobei ich sagen muss, dass diese Unterstützung nicht planbar und somit nicht vergleichbar mit einer professionellen Kinderbetreuung war.

Die Nachmittage verbrachten wir im Garten – wir Muttis diskutierten über Corona und die Welt, über unsere Pläne und Projekte, über Männer und Familie; die Kinder spielten abwechselnd „Dinosaurier-und-Vulkanausbruch“ und „Prinzessin-und-König“ (rate, wer sich was wünschte). Der kleine Milan Hepp wurde in diesem Frühjar-Sommer Olayas bester und einziger Spielgefährte.

Neue Ideen und Kontakte

Fürs Übersetzen waren diese Monate Mist, fürs Pläne schmieden aber ideal. Insbesondere überlegte ich mir Wege, die physischen Begrenzungen zu überwinden. So entstand die Idee eines Berufsverbands für Dolmetscher:innen für Leichte Sprache. Die Zeit war noch nicht reif, aber so lernte ich Anja Teufel kennen, was sich sowohl privat als auch beruflich als Glücksfall herausstellte. Alles ist also zu was nutze. Ein anderes Baby dieser Zeit ist die Vorlese-Stunde, die sich zu einer wirklich tollen Sache entwickelt hat.

Ein weitere glückliche Fügung war das Zusammentreffen mit Angelika Haarkamp. Das war zwar schon 2019, im letzten Jahr wurde sie aber zur festen Lektorin meiner Texte und seit einigen Monaten auch zur Prüfmoderatorin. Ich bin dankbar für Angelikas vielfältige Erfahrung als „Dinosaurier im Geschäft“, wie sie immer sagt, für ihren Blick von außen und für ihren kritischen Geist. Meine Kund:innen profitieren natürlich auch von mehr Qualität durch die Einhaltung des 4-Augen-Prinzips nach DIN-EN ISO 17100:2015. Win-win würde ich sagen :).

Umzug nach Schleswig-Holstein

Gleichzeitig wuchs in mir der Wunsch, Frankreich zu verlassen und gen Norden zu ziehen. Zurück in die alte Heimat, näher zu meiner Mutter. Ein doppelter Boden für Zeiten ohne Kinderbetreuung. Zudem war mein Gedanke: Tochter Marleen ist mit ihren zwei Jahren klein genug, dass ihr der Wechsel leicht fallen wird. Olaya hat ihre Freundinnen seit Monaten nicht gesehen – das ist die Gelegenheit! Mit flauem Magen machten wir Nägel mit Köpfen: Wohnung kündigen, neue Wohnung suchen, Umzug organisieren, im beschaulichen Brokstedt installieren – im Rückblick – und nur da – ein Klacks.

Seit August sind wir nun hier und ich muss sagen: Es war die Entscheidung des Jahres! Die Kinder haben eine innige Beziehung zu Oma und Opa entwickelt, die Kinderbetreuung hat letztendlich auch geklappt und ist fahrradfahrig erreichbar, die Wohnung ist fabelhaft, mein Mann ist happy im neuen Job, das Internet ist schwindelerregend schnell … Könnte nicht besser sein.

Wissenschaftliche Mitarbeiterin für Bettina Bock

Ach ja, fast hätte ich es vergessen: Fast zeitgleich mit dem Umzug begann das LeiSA-parti-Projekt. Bettina Bock will mich als wissenschaftliche Mitarbeiterin – ich konnte mein Glück kaum fassen. Nun also Forschung – warum nicht? Nicht selten habe ich seitdem Bettinas scharfen Verstand bewundert. Ich liebe ihre unprätentiöse, unaufgeregte Art. Die beste Chefin der Welt, ganz klar. Daneben sind die Diskussionen mit den sogenannten Bildungs- und Inklusionsreferenten eine wahre Bereicherung. Gemeinsam entwickeln wir Ideen, wie wir die Forschungsergebnisse für Menschen mit Lernschwierigkeiten barrierearm aufarbeiten wollen – und (finanziell und praktisch) können.

Fazit

Fazit dieses turbulenten Jahrs? Das Dolmetschen kommt langsam zurück, die Schulungen laufen vermehrt online, das Prüfen und Forschen sowieso. Mal am Rande der Verzweiflung, doch dann wieder beflügelt von glücklichen Zufällen und Begegnungen. Und dankbar für die Erkenntnis: Auch in mir steckt eine Digitalnomadin! Widrige Umstände? Ihr kriegt mich nicht klein!

Inspiration für diesen Beitrag

Claudia Kauscheders Jahresrückblick führte mich zur Blogparade von Eva Peters. Vorgabe war: Schreibe Deinen Beitrag zur Blogparade bis zum 2.1.2021Das war am 31. Dezember. Kurze Deadlines sind mir immer ein Ansporn, halten sie mich doch davon ab, endlos an meinen Texten herumzudoktern. Feiern war dieses Jahr ja ohnehin nicht angesagt – warum also nicht den Jahreswechsel der Retrospektive widmen?